Interview mit Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen „Wir sind dem Leid der Menschen sehr
nahe gekommen“ Es brauchte eine Pandemie, damit sich der Blick auf die prekäre Situation der Beschäftigten in der Fleischindustrie weitet. Im Juni 2020 schickte das Land NRW den gesamten Kreis Gütersloh in den so genannten „Tönnies-Lockdown“, weil sich 1500 Arbeiter*innen mit Corona infiziert hatten. Mit Bauzäunen wurden die Betroffenen in ihren Wohnvierteln regelrecht kaserniert und isoliert. Das Medienecho war gewaltig, die Empörung über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie überschlug sich. Auch die Caritas Gütersloh tauchte plötzlich europaweit in den Schlagzeilen auf: Vorstand Volker Brüggenjürgen, jahrelang beharrlicher Kritiker des Werkvertragsarbeitersystems, absolvierte unzählige Interviews. 2016 hatten er und seine Mitstreiter*innen eine Beratungsstelle für die betroffenen Werkvertragsbeschäftigtren ins Leben gerufen hatte. Sechs Jahre nach der Gründung blickt er zurück. Vor dem Tönnies-Lockdown wurden Sie in einem Interview gefragt: Was muss sich ändern? „Viel“, hieß es damals. Hat sich was geändert? Volker Brüggenjürgen: Durch das Verbot der Werkverträge hat sich die rechtliche Grundlage von Arbeitsmigrant*innen in der Fleischindustrie geändert. Die Leute haben jetzt normale Arbeitsverträge. Und das ist ein Meilenstein für die langfristige Hilfe der Menschen… …also fehlt Ihrer Beratungsstelle die Geschäftsgrundlage? Brüggenjürgen: Nein, es ist allenfalls ein Anfang von Veränderungen. Eine Branche, deren Erfolg seit Jahrzehnten darauf beruht, arme Menschen vor allem mit südosteuropäischer Herkunft auszubeuten, die verändert sich nicht durch einen Federstrich. Der brutale Umgangston und die schwierigen Arbeitsbedingungen haben sich nicht verändert. Die Menschen kommen aus Armut in unser Land, weil sie zu Hause keine Möglichkeiten haben, ein Auskommen für die Familie zu erwirtschaften. Also hat sich nur das Label geändert und das menschliche Schicksal hinter dieser Art der Arbeitsmigration nicht? Brüggenjürgen: Meist sind es dieselben Rekruter – so nennen die sich heute –, die die Menschen anwerben, ihnen das Blaue vom Himmel versprechen und sie damit in die Region locken. Hier vor Ort sieht es dann ganz anders aus. Dass sich nicht viel verändert hat, lässt sich an der hohen Fluktuation in diesen Betrieben der Fleischindustrie ablesen. Was war seinerzeit Anlass der Gründung Ihrer Beratungsstelle? Brüggenjürgen: Ideengeber waren sehr mutige Einzelpersonen, die die prekäre Situation der damaligen Werkvertragsarbeiter*innen öffentlich gemacht haben. Das war Pfarrer Peter Kossen, der als katholischer Geistlicher in seinen Predigten darauf hingewiesen hat. Das war aber auch Inge Bultschnieder, die Kontakt zu einer Arbeiterin im Krankenhaus bekommen hatte. Sie gaben die Impulse für uns zu sagen: Da muss auch die Caritas aktiv werden. Es gab zusätzlich sofort die volle Unterstützung von Dr. Thomas Witt, damals Vorsitzender des Diözesan-Caritasverbandes des Erzbistums Paderborn. 2016 konnte dann die Beratungsstelle ihre Arbeit aufnehmen. Ist Ihre Arbeit über die Jahre professioneller geworden? Brüggenjürgen: Wir sind vor allem in zwei Bereichen professioneller geworden: Zum einen bestand unser Projekt darin, den Menschen unbürokratisch zu helfen, und zum anderen sozialpolitische Lobbyarbeit zu betreiben, um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass die Dinge hier nicht in Ordnung sind. In beiden Fällen haben wir an Erfahrungen dazu gewonnen. In den vielen Tausend Beratungsgesprächen haben unsere Mitarbeitenden die Betroffenen sehr genau kennengelernt. Wir haben die Lebenssituation der Arbeitsmigrant*innen zu verstehen gelernt. Wir haben immer mehr verstanden, wie die Ausbeutung funktioniert, was das für die Familien, für die Kinder bedeutet. Man kann sagen: Wir sind dem Leid der Menschen sehr nahe gekommen. Das hat unsere Lobbyarbeit sehr glaubwürdig gemacht. Vor allem, weil wir kein Geld von Unternehmen oder in den ersten Jahren für unsere Hilfen auch kein Geld von den Kommunen angenommen haben, um unsere Arbeit zu finanzieren. An dem internationalen Medienecho auf unsere Arbeit während und nach dem so genannten „Tönnies-Lockdowns“ 2020 konnte man ablesen, dass wir als authentischer Kritiker diese Umstände wahrgenommen werden und seit Jahren sind. Sie haben immer wieder die menschenunwürdige Wohnsituation der Werkvertragsarbeiter*innen angeprangert. Wohnen die Leute heute schöner? Brüggenjürgen: Das Verbot der Werkverträge hat dazu geführt, dass die Gemeinschaftsunterkünfte der Betriebe besser kontrolliert werden und nicht mehr so überbelegt sind. Aber viele dieser EU-Armutsmigranten leben in privat vermieteten Objekten. Und da hat sich leider relativ wenig verändert, weil ein Teil der heimischen Bevölkerung die Notlage der Menschen ausnutzt und vielfach nach wie vor desaströse Wohnungen an die Arbeiter*nnen zu völlig überhöhten Preisen vermietet werden. Da liegt nach wie vor sehr viel im Argen. Es gab viele Rückmeldungen auf Ihre Arbeit. Rückmeldung auch in Form von scharfer Kritik und Anfeindungen bis hin zu Klagen, denen auch Sie sich persönlich stellen mussten. Gab es aber Situationen, in denen Sie vielleicht angerührt waren, weil auch Dank geäußert wurde? Brüggenjürgen (denkt lange nach): Das Projekt stand zwischenzeitlich finanziell auf sehr wackeligen Beinen. Wir waren eigentlich am Ende unserer Möglichkeiten und standen kurz vor dem Scheitern. Dann hat mich ein katholischer Geistlicher besucht, der mir von seiner Arbeit in Nicaragua erzählt hat. Am Ende hat er mir eine Nachlassspende von 100.000 € für das Projekt zur Verfügung gestellt. Ich konnte das nicht glauben. Das hat mich innerlich sehr aufgewühlt und berührt. Ein anderer Moment war, als ich gehört habe, dass das Bundeskabinett die Werkverträge in der Fleischindustrie verbieten wollte. Da hatte ich Tränen in den Augen. Haben Sie jemals ans Aufhören gedacht? Brüggenjürgen: Ans Aufhören habe ich nie gedacht. Natürlich gab es Momente während der rechtlichen Auseinandersetzung als Privatperson mit der Tönnies-Holding, wo ich dachte: Das möchte ich mir und meiner Familie nicht länger zumuten. Ich glaube, Frau Bultschnieder und Pfarrer Kossen haben da unter Umständen einen sehr viel höheren Preis bezahlt, weil ich als Vorstand einer großen Wohlfahrtsorganisation doch ganz gut vernetzt und auch finanziell abgesichert bin. Hat die Caritas, als die Beratungsstelle gegründet wurde, damit gerechnet, welche Tragweite das Ganze annehmen würde? Brüggenjürgen: Nein. Wir wussten zwar, dass wir uns nicht beliebt machen, wenn wir uns mit einer milliardenschweren Holding anlegen. Deshalb haben wir uns auch Verbündete gesucht – aus Kommune, Gewerkschaft und Kirche. Aber was auch an Ablehnung und Kritik kam, damit haben wir nicht gerechnet. Was wir auch nicht vorausgesehen haben: die Menge an positiven Rückmeldungen aus der Gesellschaft, die in etwa so lauteten: „Wir halten von Kirche und Caritas nicht viel. Aber dass sie sich an dieser Stelle engagieren, ist klasse…“ Es hat uns als Organisation auch verändert, weil jetzt das sozialpolitische Engagement völlig unstrittig ein Teil unserer Arbeit als Wohlfahrtsverband geworden ist. Entwickeln wir ein Szenario: Was wäre mit den Werkvertragsarbeiter*innen passiert, wenn es die Beratung durch die Caritas nicht gegeben hätte? Brüggenjürgen: Wir gehen davon aus, dass noch mehr Werkvertragsarbeiter-Familien auseinander gebrochen wären. Dass viele Kinder schlimme Erfahrungen durch die immensen psychosozialen Belastungen gemacht hätten. Wir haben nicht nur viel Leid gesehen. Wir hoffen auch, dass wir viel Leid verhindert haben. Wir reden hier über Menschen, die immer nur hin- und hergeschoben werden, die überall schlecht behandelt werden. Und wir sind eine Institution, die ihnen vielleicht das erste Mal das Gefühl gibt, dass sie auf Augenhöhe als Mitmensch behandelt werden. Das ist der eigentliche Wert unserer Arbeit. Wie geht es mit Ihrer Beratungsstelle weiter? Brüggenjürgen: Der Zuzug der Arbeitsmigrant*innen geht weiter. Weil die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie nach wie vor sehr hart sind, können die Menschen die Arbeit nicht lange durchhalten. Sie bleiben aber in der Region. Das sind EU-Bürger. Insofern verändert sich unsere Arbeit in Richtung Integrationsbegleitung. Wie helfen ihnen, in der Gesellschaft besser und schneller Fuß zu fassen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Kinder mehr Bildungschancen bekommen und die Familien schneller Deutsch lernen. Sonst verlieren wir eine Generation. Integration ist doch aber eigentlich eine Aufgabe von Politik, den Kommunen und der Gesellschaft insgesamt, oder? Brüggenjürgen: Ja. Die eigentliche Zuständigkeit liegt in den Kommunen. Das ist ja gar keine Frage. Aber wir als Wohlfahrtsverband können diese bleibende Integrationsaufgabe unterstützen, begleiten und zum Teil auch wie in der Vergangenheit initiieren. Eine Caritas-Kampagne lautete mal: Zusammen sind wir Heimat. Das ist die eigentliche Aufgabe die noch vor uns liegt. Corona beherrscht die Nachrichten. Verlieren wir die Situation der Armutsmigrantion gerade aus dem Blick, weil wir so sehr im Pandemie-Krisenbewältigungsmodus stecken? Brüggenjürgen: Ja, es hat jeder mit sich selbst zu tun. Die Sorge um die eigene Gesundheit führt unter Umständen dazu, dass man benachteiligte Gruppen weniger in den Blick nimmt. Was noch hinzu kommt: Die Fleischindustrie bemüht sich ja nach Kräften zu kommunizieren, dass alles in Ordnung ist. Schließlich zahlt man ja den Mindestlohn. Von daher ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit, die Medien weiter hinschauen und die Dinge beim Namen nennen. Das Interview führte Hartmut Salzmann (Redakteur und Inhaber der salzmann medien GmbH)