Ein Jahr Tönnies-Lockdown: Was hat sich geändert, was ist geblieben? Anlässlich des Jahrestages des „Tönnies-Lockdown“ (20. Juni 2020) wirft der Caritasverband für den Kreis Gütersloh einen Blick darauf, was sich allgemein an der Situation der Beschäftigten in der deutschen Fleischindustrie geändert hat. Vorstand Volker Brüggenjürgen erkennt an, dass zwar das Werkvertrags-System in der Fleischindustrie verboten wurde. Die Wohnsituation der meisten Armutsmigrant*innen hält er nach wie vor für höchst prekär. Auch in den Arbeitskontexten gehörten extremer Arbeitsdruck, mangelnder Arbeitsschutz und das Vorenthalten von Lohn weiter zum Alltag der Beschäftigten in der Branche. Rückblende: Im Juni 2020 kam es zu einem massenhaften Corona-Ausbruch im Tönnies-Schlachtwerk Rheda-Wiedenbrück. Mehr als 1.500 Werkvertragsarbeiter*innen hatten sich mit dem Corona-Virus infiziert. Ganz Europa blickte plötzlich auf den Kreis Gütersloh. Die Landesregierung verhängte am 23. Juni einen Lockdown, von dem schließlich in den Kreisen Gütersloh und Warendorf ingesamt mehr als 640.000 Menschen betroffen waren. 7.000 Tönnies-Beschäftigte überwiegend mit Werkverträgen über Subunternehmen beschäftigt und ihre Angehörigen mussten in Quarantäne. Die Ordnungsbehörden ergriffen für die 15.000 Betroffenen teils drastische Maßnahmen. In Verl-Sürenheide riegelte man ganze Straßenzüge mit einem Bauzaun ab. Im Januar 2021 wurde schließlich das Werkvertrags-System in der Fleischindustrie qua Gesetz verboten. Auch setzte die Bundesregierung strengere Auflagen für Gemeinschaftsunterkünfte durch. Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen hat die bedrückenden Bilder der Juni-Tage 2020 noch klar vor Augen. Die Zwangskasernierung der betroffenen Arbeiter*innen in Sürenheide habe ihn „schockiert und sehr betroffen gemacht. Da wurden Menschen, die überhaupt nichts für diese Masseninfektion konnten und unter der Ausbeutung gelitten haben, öffentlich gebrandmarkt als diejenigen, die das Problem sind“. Der Corona-Massenausbruch habe die Region rund um Gütersloh komplett durcheinander gewirbelt. „Man konnte sich diese Dimensionen gar nicht vorstellen“, erinnert sich Volker Brüggenjürgen. „Der Tönnies-Konzern und der Lockdown im Kreis Gütersloh waren plötzlich die Top-Themen in den Nachrichten.“ Den Corona-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück bezeichnet Volker Brüggenjürgen als „Auslöser für eine gewaltige Veränderung im Werkvertrags-System in der deutschen Fleischindustrie“. Die Missstände seien endlich in den Blick genommen worden. Viel zu spät, wie Brüggenjürgen kritisiert. „Wir haben jahrelang auf die Massenausbeutung von Armutsmigranten hingewiesen. Wir haben die skandalösen Zustände in den Betrieben und in den Unterkünften klar benannt.“ 2016 hatte der Caritasverband für den Kreis Gütersloh eine Beratungsstelle für Werkvertragsarbeiter*innen in der heimischen Fleischindustrie ins Leben gerufen. Allein bis Juni 2021 führten die Fachkräfte mehr als 15.000 Gespräche in polnischer, bulgarischer und rumänischer Sprache durch. Das Verbot des Werkvertrags-Systems in der Fleischindustrie begrüßt die Caritas ausdrücklich. Bis dato hätten die vorwiegend aus Südosteuropa stammenden Armutsmigrant*innen in „totaler Abhängigkeit von den Subunternehmern“ gelebt. „Es gab systematischen Lohnbetrug. Die Menschen waren zum Teil 50, 60 Stunden in den Werken. Das ist verboten worden“, so Volker Brüggenjürgen. Die Wohnsituation der Betroffenen hält der Caritas-Vorstand jedoch vielerorts nach wie vor für unwürdig. Die Gemeinschaftsunterkünfte, die Tönnies inzwischen für einen kleineren Teil der Beschäftigten bereit stellt, seien ordnungsgemäß renoviert worden. Aber die Zustände in privat vermieteten Unterkünften, die kaum kontrolliert werden können, hätten sich nur marginal verändert. Dass also alles legal läuft in der heimischen Fleischindustrie – davon will Volker Brüggenjürgen längst nicht sprechen. „Es gibt in der Branche viel Erfahrung darin, gesetzliche Grenzbereiche auszunutzen.“ In der Armutsmigration, die durch das Werkvertrags-System befeuert wurde, sieht er ein Problem von internationaler Dimension. „Wir haben immer gedacht: Wir haben das Pech, dass wir ein so großes Schlachtunternehmen in der Region haben. Aber wenn man genauer hinsieht, stellt man fest: Es ist ein europäisches Problem.“ Man beute Billigarbeitskräfte aus Ländern aus, mit denen es ein Armutsgefälle gebe. Volker Brüggenjürgen: „Wir haben Familien kennen gelernt, die sind der Arbeit durch ganz Europa hinterher gereist.“ Diesen Menschen will die Caritas Gütersloh mit ihrem Beratungsangebot weiter helfen. Nach Brüggenjürgens Auffassung muss gleichzeitig die politische Einflussnahme aufrecht erhalten werden. „Wenn nicht staatliche Institutionen beinhart kontrollieren, dann wird sich nichts zum Besseren wenden.“ Da seien die Parteien und die Gewerkschaften ebenso wie der Bund, die Länder und die Kommunen gefragt. Zur Person Volker Brüggenjürgen arbeitet als Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Gütersloh e.V.. Er ist Diplom-Sozialarbeiter und Master of Arts in „Social Organization Management“. In seinem Caritas-Geschäftsbereich entstand 2016 ein Beratungsangebot für Werkvertragsarbeiter*innen in der heimischen Fleischindustrie. Volker Brüggenjürgen wird seither von Politik und Medien als Experte für die Lebenssituation von Armutsmigrant*innen in der Fleischindustrie angefragt. Kontakt Volker Brüggenjürgen Tel. +49.5241.9883-0 info@caritas-guetersloh.de