Rheda-Wiedenbrück.„Die Kontrast zwischen unserem Reichtum und dem Ausgenutzt werden der Arbeitsmigrant:innen aus Osteuropa ist immer wieder bedrückend“, betonte Volker Brüggenjürgen. Der Vorstand der Caritas Gütersloh hatte im Namen des Netzwerks „Fair Arbeiten und Zusammenleben in OWL“ zu einer Autorenlesung mit Podiumsgespräch eingeladen. „Wir möchten ein sozialpolitisches Thema zurück ins Blickfeld holen, das weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist“, beschrieb er das Anliegen.
Im gut besuchten Haus der Caritas in Wiedenbrück stellte der Journalist und Autor Sascha Lübbe sein Buch „Ganz unten im System“ vor. Darin wird die Situation von Arbeitsmigrant:innen beleuchtet, die auf deutschen Baustellen, in Schlachthöfen, als Lkw-Fahrer oder als Reinigungskräfte in Firmen arbeiten. Viele von ihnen werden systematisch ausgebeutet. Ihr Leben ist oft von langen Arbeitstagen, Isolation und Einsamkeit geprägt.
Sascha Lübbe begibt sich auf Spurensuche in einem Parallelsystem. Er lässt Betroffene zu Wort kommen, berichtet wie sie leben, was sie nach Deutschland verschlagen hat, beschreibt ihre Ziele und Hoffnungen. Bereits seit Jahren beschäftigt er sich mit den Themen Migration, Integration und sozialer Ungleichheit. Für sein Sachbuch hat der Berliner mit ca. 70 Arbeitsmigrant:innen bundesweit gesprochen. Auch im Kreis Gütersloh recherchierte er.
Bei der Lesung berichtete Lübbe zunächst aus dem Alltag eines älteren rumänischen Bauarbeiters. In der Baubranche habe er die Situation insgesamt am schlimmsten empfunden. Bei seinen Recherchen habe er zum Beispiel private Zwei-Zimmer-Wohnungen gesehen, die an sieben Osteuropäer gleichzeitig vermietet wurden – „zu je 350 Euro pro Monat“. Das sei zwar verboten, finde jedoch trotzdem statt. Er sei auch auf Baustellen gewesen, wo grau bezahlt werde: einen Teil der Stunden offiziell, und für die restlichen Stunden bekommen die Arbeiter einen Umschlag zugesteckt.
In einem weiteren Kapitel spiegelte der Autor das Gespräch mit einem 25-jährigen Arbeiter aus der Fleischbranche wider. Der junge Rumäne habe ihm geschildert, dass er mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt worden sei, wo er sich plötzlich in einem Schlachthaus wiedergefunden habe – ohne viel Hoffnung, aus der Situation herauszukommen, so Lübbe.
Auch auf dem Podium wurde das Thema erörtert. „Das ist hier absolut der richtige Ort, um das Buch vorzustellen“, sagte Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen. In Rheda-Wiedenbrück sei man „mittendrin in der Geschichte der Arbeitsmigration.“ Das Podium war sich einig, dass sich die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich deutlich verbessert hätten. Doch gut seien sie deshalb nicht.
In den verschiedenen Branchen lebten die Arbeitsmigrant:innen häufig in Abhängigkeitsverhältnissen, erklärte Sascha Lübbe. Falle die Arbeit weg, drohe die Obdachlosigkeit, denn der Arbeitgeber sei oft auch Vermieter. Die Isolation der Betroffenen trage ebenfalls dazu bei, dass sie keinen Ausweg fänden. Frank Riedel, Beratungsstelle Arbeit des Diakonisches Werkes Herford, sprach in diesem Zusammenhang von einem Gefühl der Ohnmacht, das auch mit fehlenden Sprachkenntnissen und der deutschen Bürokratie zu tun habe. Komplizierte Regeln verhinderten, dass Menschen ihr Recht durchsetzen könnten.
Die Betroffenen wüssten meist nicht, wie der deutsche Arbeitsmarkt funktioniert, ergänzte Annelie Buntenbach, ehemaliges Mitglied des Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Um ihre Situation zu verbessern, seien u.a. stärkere Kontrollen auch auf EU-Ebene und ein breites Beratungsangebot wichtig. Das Verbandsklagerecht im Arbeitsrecht könnte nach Ansicht des Podiums ebenfalls helfen – damit Arbeitnehmer nicht um ihren Job fürchten müssten, wenn sie sich wehren.
Die Runde war sich einig, dass es keine einfachen Lösungen gebe, sondern gesamtgesellschaftliche Anstrengungen brauche, um die Bedingungen nachhaltig zu verbessern. Zum Abschluss gab Sascha Lübbe dem Publikum die Frage mit auf den Weg: „Was könnte jeder Einzelne tun, um die Arbeitsmigrant:innen zu unterstützen?“, bevor noch Möglichkeit zum persönlichen Austausch bestand.
Die Lesung wurde veranstaltet vom Netzwerk „Fair arbeiten und Zusammenleben in Ostwestfalen-Lippe“. Unter dem Dach der Initiative für Beschäftigung OWL haben sich der Caritasverband im Kreis Gütersloh, der DGB Ostwestfalen-Lippe, die Diakonie im Kreis Herford sowie die Netzwerk Lippe gGmbH zu diesem regionalen Netzwerk zusammengeschlossen. Das gemeinsame Ziel ist es, das Thema europäische Migration in der Region Ostwestfalen-Lippe auszuleuchten und sich gegen Arbeitsausbeutung und Prekarisierung einzusetzen.
Die Caritas Gütersloh ist in diesem Bereich auf vielfältige Weise engagiert, unterstützt mit verschiedenen Beratungsangeboten die Integration insbesondere auch von Arbeitsmigrant:innen. Unter anderem gibt es seit 2016 eine spezielle Beratung für Familien mit Werkverträgen, die vor allem während der Corona-Krise große Bekanntheit erlangte. Mit diesem muttersprachlichen Angebot möchte der Verband Familien aus Südosteuropa, die als Arbeitsmigrant:innen im Kreis Gütersloh leben und arbeiten, beim Einleben unterstützen und ihnen zu mehr Teilhabe in der Gesellschaft verhelfen.